Beitrag zur Debatte um verbindende Klassenpolitik – von Bernd Tenbensel

Die mittlerweile hochgekochte Debatte darüber, ob DIE LINKE zur Akademikerpartei geworden sei und sich ihr ursprüngliches Klientel, „die kleinen Leute“ oder gar die Arbeiterklasse, weitestgehend von ihr abschiedet hätten, hat Nicole Gohlke um einen Beitrag bereichert. Sowohl in einer längeren Abhandlung (Nicole Gohlke, 2021, Klassenpolitik in Zeiten von Akademisierung und neuer Unsicherheit) als auch in einem Artikel im Neuen Deutschland am 20.04.2021, der als Beitrag zur Diskussion um Sahra Wagenknechts letzte Buchveröffentlichung, „Die Selbstgerechten“, veröffentlicht wurde, löst sie alle Probleme dieser Debatte auf ebenso einfache wie schlichte Weise auf.

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Die Industrie-Arbeiterschaft ist weitestgehend verschwunden, die Erbringung von Dienstleistungen ist dominant und die Anzahl akademisch Qualifizierter habe im Vergleich zur mittlerweile dezimierten Industrie-Arbeiterschaft deutlich zugenommen. Und auch Akademiker*innen starteten längst nicht mehr mit dem Versprechen aus längst vergangenen Zeiten auf gut bezahlte Stellen ins Berufsleben, sondern auch sie landen in der Regel in Lohnarbeitsverhältnissen. Ebenso wie viele andere seien sie ebenfalls gezwungen, ihre Arbeitskraft zu Markte tragen und arbeiten vielfach in prekären Arbeitsverhältnissen. Im Gegensatz zu  qualifizierten Facharbeiter*innen, die häufig nicht nur über einen sicheren unbefristeten Job verfügen und besser bezahlt würden, hätten Menschen mit einem akademischen Abschluss dieses oftmals nicht. Schlussendlich, Akademiker*innen arbeiten im Lohnarbeitsverhältnis und gehören somit objektiv zur Arbeiter*innen-Klasse. Dies gelte es für linke Klassenpolitik zu nutzen, denn „nur so kann aus objektiv gemeinsamen Interessen der Angehörigen einer „Klasse gegenüber dem Kapital“ eine „Klasse für sich selbst“ werden. (Nicole Gohlke, 2021,S. 19) Aus diesem Grunde können sie keine unterschiedlichen Interessen gegenüber  Nicht-Akademikern mehr haben, die man gegeneinander ausspielen könnte oder sollte.

Der mit dem wirtschaftlichen Strukturwandel einhergehende Wandel des Arbeitsmarktes ist sicher nicht zu bestreiten. Bereits in den frühen 60er Jahren kam es zum Ausbau insbesondere von Fachhochschulen und technischen Fakultäten an Universitäten. Ab Beginn der 70er Jahre folgte dann im Zusammenhang mit der  Entwicklung des Sozialstaates der massive Ausbau gesellschafts- und sozialwissenschaftlicher sowie geisteswissenschaftlicher Bereiche an Universitäten. Letzteres führte auch dazu, dass der Anteil der weiblichen Studierenden deutlich zunahm. Auch bekamen vermehrt Menschen, die ihr Abitur über den Zweiten Bildungsweg erlangt haben, Zugang zur akademischen Ausbildung.

c: hp.schulz

Fanden naturwissenschaftlich qualifizierte Akademiker und Ingenieure schon immer überwiegend in industriellen Bereichen ihre Einsatzfelder, so befinden sich die Arbeitsfelder der Anderen vorwiegend in staatlichen und öffentlichen Institutionen sowie im Dienstleistungsbereich. Mit anderen Worten, bis auf Beamt*innen im Staatsapparat, befand sich  die Mehrzahl der Akademiker*innen schon immer in Lohnarbeitsverhältnissen.

Doch macht allein das Merkmal Lohnarbeit alle Beschäftigten gleichermaßen zu Mitgliedern der Arbeiter-Klasse mit gleichen Interessen? Nach Karl Marx ist das Kapital-Arbeit-Verhältnis,  das Klassen-Verhältnis, und der Klassen-Begriff nur als relationaler zu verstehen. D. h., die eine kann nicht ohne die andere bestehen und ihr Verhältnis zueinander ist das eines Kampfes. Gekämpft wird um die Erzeugung und Verteilung des gesellschaftlichen Mehrproduktes, das als Mehrwert und Profit erscheint. Alle Stationen, wo Menschen mit  der Planung von Produkten, ihrer Herstellung, ihres Vertriebes und ihres Verkaufs beschäftigt werden, gehören also zur Arbeit*innen-Klasse. Alle Menschen, die zur Arbeiter*innen-Klasse gehören sind also auch Lohnarbeit*innen.

Doch umgekehrt gilt das nicht. Wer in öffentlichen Betrieben oder im nicht-kommerziellen Dienstleistungssektor arbeitet ist zwar lohnabhängig, zählt aber nicht zur Arbeiter*innen-Klasse, denn sie sind nicht mit Produktion und Realisierung des Mehrwerts befasst. Sie zählen zur lohnabhängigen Zwischenschicht. Für die Zuordnung zur Arbeiter*innen- oder Lohnarbeiter*innen-Klasse ist also die Stellung in der Produktion- und Reproduktion des Kapital-Verhältnisses entscheidend und nicht die Qualifikation. Doch aus der objektiven Zuordnung zur Stellung im gesellschaftlichen Produktionsprozess ergeben sich noch keine subjektiven Orientierungen, denn diese lassen sich eben nicht rein ökonomisch bestimmen. Hier kommt der soziale Raum ins Spiel und welche politischen und ideologischen Positionen die Angehörigen der gesamten Lohnarbeiter*innen-Klasse dort jeweils einnehmen.

c: R. Hasenkox

Was also die Arbeiter*innen-Klasse mit den Mitgliedern der Zwischen- oder Mittelklasse eint, ist sicherlich das Lohnarbeitsverhältnis. Doch in welche Richtung sich letztere bewegen, ist damit allein noch nicht geklärt. Akademisch qualifizierte Lohnabhängige, die Positionen im mittleren Management einnehmen, orientieren sich in der Regel vermutlich eher in Richtung ihrer Arbeitgeber, dem Kapital. Auch speist sich das neue Kleinbürgertum, welches sein politisches Zuhause bei den GRÜNEN gefunden hat, aus dieser Gruppe. Festhalten lässt sich, dass allein eine akademische Qualifizierung wenig darüber aussagt, in welchen Arbeits- und Lebenssituationen sich Akademiker nach ihrer Ausbildung wiederfinden werden, denn dazu ist diese Gruppe viel zu differenziert, sowohl hinsichtlich des Inhalts Ihrer Qualifikation und beruflichen Position, als auch Ihrer sozialen Herkunft. Gegenwärtig sind es insbesondere Menschen mit geistes- und sozialwissenschaftlichen Qualifikationen, die sich in prekären Arbeitsverhältnissen oder Arbeitslosigkeit wiederfinden.

Es kann daher davon ausgegangen werden, dass sich die Arbeitsmarktsituation des vor allem in den Dienstleistungsberufen angewachsenen akademischen Prekariats, dessen Berufsverläufe sich oftmals durch Kettenarbeitsverträge auszeichnen, den Berufsverläufen der Mitglieder der Arbeiter*innen-Klasse angeglichen hat, die unter vergleichbar prekären Verhältnissen ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Doch entsteht aus dem für beide Gruppen gleichermaßen vorhanden Wunsch nach sicheren und gut bezahlten Jobs auch zwangläufig  eine gleiche gesellschaftlich Klassenlage? Die Mitglieder der Arbeiter*innen-Klasse sind auf Grund ihrer Stellung im Produktions- und Verwertungsprozess, ob nun akademisch qualifiziert oder nicht, unmittelbar an die Dynamik des Kapital-Verwertungsprozesses gebunden, die sich gegenwärtig besonders in technisch-organisatorischen Transformationsprozessen und höherer Arbeitslosigkeit ausdrückt. Die damit verbunden gesellschaftlichen Folgewirkungen wirken sich nur mittelbar auf die Arbeitssituation und den Arbeitsmarkt im Dienstleistungsbereich und Non-Profit-Sektor aus.

Der entscheidende Unterschied zwischen akademisch und nicht-akademisch qualifizierten Beschäftigten ist nicht in ihrer unmittelbaren Zuordnung zu den sozialen Klassen und gesellschaftlichen Arbeitsbereichen zu suchen. Entscheidend ist vielmehr, wie sich die objektiven Veränderungen in den jeweiligen Arbeitsbereichen auf die gesellschaftlichen Positionen der Lohnabhängigen auswirken und welche sozialen und qualifikatorischen Ressourcen den betroffenen Menschen zur Verfügung stehen, die daraus entstehenden Problemlagen zu bewältigen. Nicole Golke führt auf dieser Ebene als zentrales Unterscheidungsmerkmal den Begriff des unterschiedlichen „Habitus“ an, der einem gemeinsamen Handeln von Akademikern und Nichtakademikern entgegenstünde, um gemeinsame Interessen durchzusetzen. Doch sind es nicht nur unterschiedliche, milieu-spezifische Verhaltensweisen, die von Bedeutung sind. Als wesentliche Unterscheidungsmerkmale sind eben die weit darüber hinausreichenden unterschiedlichen Ressourcen: Die an die allgemeine und berufliche Qualifikation gebunden Kompetenzen, sich in der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt gegenüber denjenigen durchzusetzen, die darüber nicht verfügen. So ist es gerade in Dienstleistungsberufen mittlerweile der Fall, dass für mittlere Führungsposition, die vormals noch fast ausschließlich von Fachkräften mit beruflicher Ausbildung und einem mittleren allgemeinen Qualifikationsniveau eingenommen wurden, aktuell ein Bachelor-Abschluss verlangt wird. So reicht die dreijährige Qualifikation einer Gesundheits- und Kranken-Pflegerin heute vielfach nicht mehr aus, um eine Leitungsposition zu besetzen. Die reine Berufsausbildung wird hinsichtlich der Möglichkeiten des beruflichen Aufstiegs zunehmend zur Sackgasse.

Jedoch sind es nicht allein die beruflichen Qualifikationen, die einen Konkurrenzvorteil darstellen, hinzukommen noch informelle Fähigkeiten, die darüber hinausgehen, wie etwa Mehrsprachigkeit, Studium und Praktika im Ausland und nicht zuletzt die Fähigkeit sich selbst zu inszenieren.

Die große Herausforderung von „Klassenpolitik“ ist es, von den realen Unterschieden in der Lebenssituation der Mitglieder der Lohnarbeiter*innen-Klasse auszugehen sowie ihren Potentialen zur Bewältigung alltäglicher Lebenssituationen, die in einem jeweils besonderen Verhältnis stehen zum dynamischen Wandel ihrer Arbeits- und Lebenswelt. Von zentraler Bedeutung ist es deshalb, nicht nur die Arbeit, also das Lohnarbeitsverhältnis, „sondern alle Aspekte der Lebensweise, der klassenspezifischen Praktiken der verschiedenen Gruppen in den Blick zu nehmen. Andernfalls setzt sich nur die Erfahrung einer besonderen Gruppe durch und verallgemeinert sich.“ (Demirovic`, 2018, S.52)

Welche Gruppen und „sozial-moralischen Milieus“ in der öffentlichen Wahrnehmung dominieren, hängt vermutlich nicht zuletzt auch davon ab, wie sie sich im sozialen Raum darstellen und in welcher Form sie ihre Ressourcen einsetzen, um Konfliktlagen nicht nur zu benennen, sondern mit ihnen alltagspraktisch, wie auch politisch, umzugehen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Industriearbeiterschaft. So kommt der Historiker Lutz Raphael in seiner Untersuchung über drei Jahrzehnte De-Industrialisierung, bei der Deutschland im Vergleich zu Großbritannien und  Frankreich noch deutlich weniger betroffen ist, zu dem Ergebnis, dass sich industrielle Arbeits- und Lebenswelten in „Randzonen“ zurückgezogen haben. Die Auflösung ehemals kompakter sozial-kultureller Milieus führte zum „unsichtbar“ werden von Problem-Wahrnehmungen und Erfahrungen von Industrie-Arbeiter*innen. „Sie sind jedoch in deutlicher kultureller, sozialer und ökonomischer Distanz zu den besserverdienenden Mittelschichten der akademischen Berufswelt.“ (Raphael, 2018 S.472) Dies bedinge einen „komplexen Wettlauf um symbolische Anerkennung von Lebensstilen und Konsumangeboten“. Den Industrie-Arbeiter*innen „fehlten die nötigen Bildungstitel, um eigenen Vorlieben allgemeine Geltung als Ausdruck legitimer Kultur zu verschaffen, und gleichzeitig sahen sie sich mit einem permanenten Prozess der Umwertung  und Neuaneignung populärer Kulturformen durch die akademische Mittelschicht konfrontiert. Und sie sind auf der Verliererseite geblieben, solange keine politische Umdeutung die Spielregeln verändert.“ (Raphael, 2018 S. 747f)

Diese empirischen Befunde zeigen, dass es um Sichtbarkeit und Repräsentation von Gruppierungen und sozialen Milieus geht und den mit ihnen verbundenen politischen und ideologischen Positionierungen. Von daher ist es gerade in der aktuellen Debatte dringend geboten, klassenanalytisch die objektiven Veränderungen in Arbeits- und Produktionsprozessen daraufhin zu untersuchen, wie sich diese auf die handelnden Menschen auswirken. Mit welchen Problemlagen sind sie konfrontiert, welche Formen von Widerständigkeit entstehen in Betrieb und Gewerkschaft, zu welchen politischen und ideologischen Formen der Repräsentation kommt es in jeweiligen Klassen-Fraktionen und sozialen Milieus? Diese Aufgabe lässt sich nicht dadurch erledigen, in dem lediglich auf die scheinbar gemeinsamen ökonomischen Interessen und Marktpositionen verwiesen wird, wie dies Nicole Gohlke tut. Die nur geringe Verankerung  im Arbeiter*innen-Milieu der Partei DIE LINKE lässt sich nicht dadurch erweitern, dass sich nun alle akademisch qualifizierten Mitglieder, egal, wo sie tätig sind, ein proletarisches Mäntelchen umhängen, nach dem Motto: Wir alle sind Arbeiter*innen-Klasse! Auch wenn dies strömungspolitischen Auseinandersetzungen geschuldet sein mag, führt es nicht zu einer wirklich verbindenden Klassenpolitik. Denn dabei sollte es nicht um die Verbindung unterschiedlicher „Identitäten“ und Mentalitäten in der Partei gehen, sondern darum unterschiedliche Interessen in der Klasse der Lohnarbeiter*innen „sichtbar“ zu machen. Dies ist eine Voraussetzung dafür, sie politisch aufzugreifen und in eine gemeinsame Strategie einzubeziehen, in der ihr spezifischer Gegensatz zum Kapital-Interesse aufgegriffen und sichtbar wird.

Literatur:
Alex Demirovic`(2018) Die Zumutungen der Klasse, in: LUXEMBURG Gesellschaftsanalyse und linke Praxis – Neue Klassenpolitik, Hrsg. Mario Candeias u.a., Berlin
Nicole Gohlke (2021) Klassenpolitik in Zeiten von Akademisierung und neuer Unsicherheit, Plädoyer für eine zeitgemäße Betrachtung von Akademiker*innen,  LUXEMBURG Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, Berlin
Ebenda, Gemeinsam in die Abstiegsgesellschaft. Ein Plädoyer für eine Klassenpolitik und für eine Betrachtung von Akademikern auf der Höhe der Zeit, neues deutschland v. 20.04.2021
Lutz Raphael, (2018) Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Bonn


Fragen und Kontakt: bernd.tenbensel@t-online.de