Der Zustand unserer Partei DIE LINKE.NRW ist kritisch. Wir haben bei der Kommunal-Wahl in NRW 26 Mandate in den Räten der kreisfreien Städte und in Kreistagen verloren (vorher: 155). Dabei ist der Zuspruch unserer Partei in Umfragen zur Landtagswahl schon seit Mitte April 2020 auf ca. 4 % gefallen. Eine Entwicklung, die für die anstehende Bundestagswahl kein gutes Vorzeichen ist.
In unserer Stamm-Wählerschaft geht die Wahlbeteiligung zurück. Wir haben zwar in den letzten zwei Jahren per Saldo rd. 650 Mitglieder in NRW dazu gewonnen (aktuell 8.732 Mitglieder). Es hätten doppelt so viele Neumitglieder sein können, hätte es nicht im gleichen Zeitraum auch massive Austritte gegeben. Über die Gründe, warum wir viele Mitglieder nicht dauerhaft halten können, besteht bislang keine Klarheit. Wir sollten uns über das weitere praktische Vorgehen verständigen und nachhaltig wirksame Aktivitäten entfalten.
Die Sichtweise der nachfolgenden Zustandsbeschreibung ist bewusst fordernd und thesenhaft angelegt. Erfolgt aber aus Insider-Perspektive, geprägt durch mehrjährige Erfahrungen im NRW-Landesvorstand. Die Typisierung als „Problem-Zonen“ liegt nahe, weil sich hinter den angeführten Problemen nicht nur Einzelfragen verbergen, sondern ein ganzes Bündel von Aspekten.
Im Vordergrund steht die Frage: „Wie sind diese Problem-Zonen aufzulösen?“ Denn die Ursachen der genannten Probleme stammen nicht aus den letzten Tagen und Wochen, sondern existieren bereits seit Jahren, haben sich aktuell verschärft. Bei der Suche nach Antworten stehen wir erst am Anfang, bei einer Bestandsaufnahme, die fünf „Problem-Zonen“ in den Vordergrund stellen will.
Problemzone I. Das Demokratieverständnis
Problematisch ist in Teilen der Partei DIE LINKE der Umgang mit den Ergebnissen demokratischer Mehrheitsentscheidungen. Die Partei versteht sich nach ihrer Satzung (siehe Präambel) plural. Mehrheitsentscheidungen sind von daher im Rahmen inhaltlicher und personeller Meinungsbildung und Weichenstellungen zwingend notwendig und unausweichlich, bringen aber ebenso unausweichlich Mehrheits- und Minderheitspositionen hervor.
Problematisch ist hierbei,
1) dass (Teile der) Minderheitsposition (häufig) nicht bereit (bzw. unfähig) sind, getroffene Mehrheits-Entscheidungen zu respektieren und anzuerkennen.
2) dass die Mehrheitsposition (häufig) nicht bereit (fähig) ist, Minderheitenpositionen (bzw. deren Verteter:innen) respektvoll als legitim anzuerkennen und in angemessener Weise – z.B. auch personell bei Wahllisten – zu berücksichtigen.
Eine Ursache dürfte in der unheiligen Tradition linker Gruppen liegen, die einzig wahre Wahrheit erkannt zu haben und zu vertreten (analog der päpstlichen Unfehlbarkeit). Dann ist die Niederlage der eigenen Position oder Person natürlich illegitim, zwangsläufig ein historischer Irrtum, der korrigiert werden muss. Das rechtfertigt, gegen den Beschluss der Mehrheit mit allen Mittel zu opponieren und insbesondere medial – vor allem auch faktenfrei – zu trommeln, um der wahren Position (oder den richtigen Kandidat:innen) doch noch zur Durchsetzung zu verhelfen[1].
Es wird eine Kultur autoaggressiver Praktiken gelebt (ja ausgelebt), wenn der Feind in den eigenen Reihen gesucht und exzessiv – bis zur Lähmung[2] oder Selbstzerstörung – bekämpft wird. Die dadurch – und vor allem durch personalisiert ausgetragene inhaltliche Konflikte – verursachten Verletzungen verselbständigen sich und perpetuieren inhaltlich längst überholte Konflikte. Sie machen vielfach einen integrierenden Umgang von Mehrheiten mit Minderheitspositionen schwierig bis unmöglich.
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[1] So wie wir es aktuell bei der Kampagne gegen die gewählte Landesliste NRW zur Bundestagswahl erleben müssen.
[2] Der LaVo NRW befindet sich seit Jahren in einem Zustand der politischen Selbstblockade. Im vorangegangen LaVo wurde es jedem fünften LaVo-Mitglied von der AKL-dominierten Mehrheit verwehrt, die Zuständigkeit für ein inhaltlich-thematisches Feld zu übernehmen. Initiativen für wichtige Projekte, wie die Durchführung einer „Industrie- und gewerkschaftspolitischen Konferenz“ wurden behindert. Seit der Neuwahl des LaVo im September 2020 wird massiv durch Kampagnen von außen, d.h. von abgewählten Kräften der AKL und nicht konstruktiven Teilen der Bewegungslinken versucht, dem LaVo eine Selbstbeschäftigung mit internen Konflikten aufzuzwingen und konstruktive, insbesondere nach außen gerichtete politische Arbeit zu verhindern.
Problemzone II. Das Parteiverständnis
Das Parteiverständnis ist eine weitere Problemzone. Es scheint mir (vielfach) diffus. Welche Rolle und Funktion die Partei DIE LINKE unter den konkreten Bedingungen einer hochentwickelten und in tiefgreifenden Transformationsprozessen befindlichen kapitalistischen Gesellschaft (und global) auf welchen Politikfeldern, in welchen gesellschaftlichen Institutionen mit welcher Zielsetzung wahrnehmen sollte und kann, ist in der Breite nicht geklärt.
Dass eine Strömung, die sich als „Bewegungslinke“ etikettiert und im neuen Parteivorstand zahlreich vertreten ist, in ihrer Grundsatzerklärung ernsthaft als ihr Ziel formuliert,
„wie sich die Praxis der Partei grundlegend verändern kann – weg von der Dominanz der Parlamentsarbeit. (…) weniger Sitzungen und (…) mehr Aktionen.“,
macht offenkundig, dass hier ein völlig unausgegorenes Verständnis von Partei und Parteiarbeit besteht.
Es ist schon eine besondere Form des „Entrismus“, Mitglied einer Organisation zu werden, die sich nach ihrer Satzung als „Partei im Sinne des Grundgesetzes“[1] definiert und als ihren satzungsmäßigen Zweck betont, „insbesondere durch die Teilnahme an Wahlen auf allen politischen Ebenen an der politischen Willensbildung im Sinne ihres Programms mitzuwirken“, um genau diesen Zweck in Frage zu stellen und zurückzudrängen.
„Weg von der Dominanz der Parlamentsarbeit“ spiegelt zudem schon eine sehr kuriose Wahrnehmung der Realität, wenn es um eine Partei geht, die in vielen Bundesländern – wie im größten Bundesland NRW – noch nicht einmal im Landesparlament vertreten ist[2] und in diesen Ländern allenfalls eine respektable Verankerung in der kommunalpolitischen Arbeit hat.[3]
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[1] So definiert § 1 Abs. 2 PartG die Funktion der Partei: „Die Parteien wirken an der Bildung des politischen Willens des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mit, indem sie insbesondere auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluss nehmen, die politische Bildung anregen und vertiefen, die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben fördern, zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger heranbilden, sich durch Aufstellung von Bewerbern an den Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden beteiligen, auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluss nehmen, die von ihnen erarbeiteten politischen Ziele in den Prozess der staatlichen Willensbildung einführen und für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen.“
[2] Der Verlust der parlamentarischen Vertretung im Landtag NRW im Jahr 2012 ist für die Bewegungslinke historisch betrachtet damit sicher ein grandioser Erfolg. Auch der damalige LaVo propagierte eine anti-parlamentarische Linie.
[3] Auch auf kommunaler Ebene scheinen sich für die Bewegungslinke erste Erfolge eingestellt zu haben, wenn man sich das Kommunalwahlergebnis in der Ruhrgebiets-Großstadt Essen ansieht, wo es gelungen ist, die Zahl der Mandate im Rat erfolgreich von 5 auf 3 Sitze fast zu halbieren und ein führender Repräsentant der Bewegungslinken als Kandidat bei der Oberbürgermeisterwahl nur noch 2,5 % der Stimmen erhielt (während die OB-Kandidaten in der Nachbarstädten Bochum 6%, in Dortmund 4,4%, und in Köln 7,2%, in Bonn 5%, und in Iserlohn sogar 8,6 % erzielten).
Problemzone III. Bewegungs- und Bündnisarbeit
Aus dem mangelhaften Rollenverständnis als Partei ergibt sich eine weitere Problemzone: Die Arbeit der Partei in Bündnissen, Bewegungen und gesellschaftlichen Organisationen. Die Partei DIE LINKE hat hier – im Westen wie NRW – praktisch kaum tradierte und tiefergehende inhaltliche, strukturelle und personelle Verankerungen. In welchen gesellschaftlich etablierten oder relevanten Organisationen sind wir denn vertreten? – Nicht einmal in den Gewerkschaften ist das in NRW in bedeutsamer Weise der Fall.
Welchen Beitrag (genauer gesagt Teil-Beitrag) DIE LINKE leisten kann, um außerparlamentarische Kräfte, Initiativen und Bewegungen systematisch zu stärken und zu entwickeln, wird nur sporadisch, aber nicht konsequent und systematisch debattiert und angegangen. Stattdessen erleben wir die Bandbreite von Ignoranz, Abstinenz, Besserwisserei bis zu aktionistischem Aktivismus (oder hält sich selbst für den Kern der Bewegung).
Das Grundproblem scheint zu sein, dass der Zusammenhang von parlamentarischem und außerparlamentarischem Kampf nicht genügend reflektiert ist. Wer sich selbst für eine „Bewegungspartei“ hält, kann in Bewegungen und Bündnissen mit Menschen, die anders denken und/oder anders parteipolitisch orientiert sind, nicht respektvoll agieren.
Und übersieht vor allem auch, dass aktive Menschen in Bewegungen und Initiativen gerade die Erwartungshaltung haben, dass Parteien bzw. deren Vertrer:innen die politischen Anliegen und Forderungen der jeweiligen Bewegung parlamentarisch ernsthaft und solidarisch verfolgen und umzusetzen versuchen. Diese berechtigten Erwartungen durch eine antiparlamentarische Attitude zu enttäuschen, ist gleichermaßen sowohl bewegungsfeindlich wie parteischädlich.
Problemzone IV. Mangelnde gesellschaftliche und historische Analysefähigkeit
Hinter den vorgenannten Punkten dürfte die Problemzone unzureichender Analysefähigkeit für gesellschaftliche, historische und ökonomische Prozesse und Kräfteverhältnisse zu vermuten sein. Dies zeigt sich mir an zwei Punkten, die mit der aktuell politisch hoch bewerteten Klimafrage zusammenhängen.
So fällt jemanden, der aus dem Rheinischen Braunkohlen-Revier kommt, natürlich auf, dass sich sogar die geschätzte Zeitschrift „Sozialismus“ im Supplement Nr. 6/2020 eine zwar populäre, aber ziemlich krass unhistorische Aussage zum Thema Klima-Bewegung leistet. In der Einleitung zu den „Thesen zur sozialökologischen Transformation“ behaupten die ebenso geschätzten Autor:innen[1] im allersten Satz:
„Die Bewegung »Fridays for Future« hat innerhalb eines Jahres geschafft, was Klima- und Umweltforscher*innen in Jahrzehnten nicht gelungen ist: Sie hat den Finger in die Wunde gelegt und die Öffentlichkeit aufgerüttelt.“
Nun ist das Entstehen der Schüler- und Jugendbewegung „Fridays for Future (FFF)“ Anfang 2019 eine absolut erfreuliche Entwicklung. Dass die zuvor als völlig unpolitisch bzw. als politikverdrossen angesehene Jugendgeneration politisch auf der Straße aktiv wurde, war für viele überraschend und gibt Hoffnung, dass der gesellschaftliche Meinungsdruck hoch bleibt, um effektive Maßnahmen des Klimaschutzes und einer sozial-ökologischen Transformation umzusetzen. Allerdings ist schon beeindruckend, wie die historischen Abläufe ignoriert und die Kausalitäten auf den Kopf gestellt werden:
FFF ist nicht Ursache – wie das zitierte Supplement meint – , sondern Ergebnis und Reflex eines gesellschaftlichen Meinungs- und Politikumschwungs zum Thema Klimaschutz, der sich im Zeitraum vor Entstehen von FFF von 2016 bis Ende 2017 längst vollzogen hatte.[2] Ein Umschwung, der entgegen der Darstellung, ohne die jahrzehntelange Vorarbeit von Klimawissenschaft und die langjährige beharrliche Arbeit von traditionellen Umweltverbänden nicht denkbar wäre.
Zu den Fakten: Die Einsetzung der sog. „Kohlekommission“ (unter Beteiligung der Wissenschaft und der großen Naturschutzverbände) durch die Bundesregierung am 06.06.2018 war zeitlich vorher. Ebenso die gerichtliche Verfügung eines Rodungsstopps für den Hambacher Wald durch das OVG Münster am 05.10.2018. Und die größte deutsche Umweltdemonstration für den Ausstieg aus der Braunkohle mit über 50.000 Teilnehmer:innen am 05.10.2018 am Hambacher Wald wurde von den traditionellen Umweltverbänden organisiert und regional massiv von der LINKEN mitgetragen. FFF war Reaktion darauf und kam erst später kurz danach.[3]
Die Ursache dieser Fehlanalyse und historischen Falschdarstellung dürfte neben mangelnder (eigener) Kenntnisnahme der Autor:innen von den vorausgegangenen jahrzehntelangen Aktivitäten der Umwelt- und Klimabewegung wohl maßgeblich in der hochgepushten medialen Resonanz zu suchen sein, die Greta Thunberg und FFF zuteil wurde. Das ganze gepaart mit der Faszination, die stets von massenhaftem Spontaneismus und Aktivismus ausgeht. „Spontaneität der Massen“ als das revolutionäre Element der Geschichte.
Auch die von „Linken“ auf Klimademonstrationen gern skandierte Forderung „System Change not Climate Change“ weist auf unzulängliche Analysefähigkeit hin. Als Demo-Schlachtruf mag die Forderung ja gut klingen und durchgehen, aber als politisch-programmatische Forderung ist sie dagegen peinlich. Die Klima-Frage stellt sich global als dringende Menschheitsfrage und nicht als eine Frage, die nur als Systemfrage – bei Umsturz des kapitalistischen Wirtschaftsweise – zu lösen ist. Insofern bleibt auch unklar, was denn eigentlich unter „System Change“ zu verstehen sein soll.
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[1] Hans Günter Bell u.a. Autor*innen des Sozialistischen Forums Rheinland.
[2] Der Meinungsumschwung zum Thema Klima fand im Zeitraum 2016 bis Anfang 2018 statt. Nach Umfragen von Allensbach waren in 08/2016 noch 54% der Bundesbürgerinnen für die Nutzung von Braunkohle; in 12/2017 waren es nur noch 40%.
[3] Der erste Schulstreik von FFF war erst am 07.12.2018; die erste bundesweite Demonstration von FFF mit 30.000 Teilnehmer:innen am 15.02.2019. Greta Thunbergs erster rein individueller „Schulstreik“ war am 20.08.2018.
Problemzone V. Der politische Habitus
Der bereits angesprochene anti-parlamentarische Impetus bei Teilen der Partei wird von den Menschen – seit Jahren auch belegt durch Umfragen – in eindeutiger Weise verstanden:
„Die Partei DIE LINKE vertritt zwar richtige Forderungen. Aber an der gesellschaftlichen Realität etwas ändern wollen die nicht (oder können die nicht)“.[1]
Hier muss die Partei klarer Position beziehen, ob sie gesellschaftliche Veränderungsschritte auch tatsächlich gehen will – also mit anderen Worten: ob sie auch regieren will. Oder ob sie es – dauerhaft – nicht will. Die aktuelle Position – der Spagat: ein bisschen dafür und ein bisschen dagegen – verscherzt Zustimmung auf allen Seiten.
Angesichts der aktuell bestehenden Wechselstimmung in der Wahlbevölkerung[2] – 67,2 % von allen und 75,9 % der Wähler:innen mit Parteineigung DIE LINKE – dürfte hier eine klare Erwartungshaltung bestehen, die nicht enttäuscht werden darf. DIE LINKE. NRW muss hier Position beziehen. – Auch mit Blick auf die Landtagswahlen NRW am 15.05.22.
Um diese Position abzusichern, bedarf es einer personellen Absicherung und Verstärkung der konstruktiven Mehrheit im LaVo bei den Nachwahlen im November 2021.
Und es bedarf einer konstruktiv geprägten, pluralistisch zusammen gesetzten, also auch Minderheiten-Positionen berücksichtigende Kandidat:innen-Liste für die LTW 2022 mit Personen, die Sachverstand, Kompetenz und konsequenten Veränderungswillen mitbringen und mit ihrem Auftritt und Habitus ausstrahlen.
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[1] Wahl-Analysen BT-Wahl 2013 bei Infratest-Dimap: „Von der Linken sagen 83%, dass sie zwar keine Probleme löse, aber die Dinge beim Namen nenne.“
BT-Wahl 2017 81 % (siehe nachfolgende Grafik):
[2] Wechselstimmung lt. Allensbach-Umfrage i.A. Bertelsmann-Stiftung vom 17.05.21: