1. Stimmung und Gesamtsituation der Partei stehen im Widerspruch zueinander

Ein bemerkenswertes Phänomen prägt den Bundesparteitag: Trotz der katastrophalen Lage, in der sich die Partei befindet – nach verheerenden Niederlagen bei den Europawahlen und den Landtagswahlen in Ostdeutschland, während die Umfragewerte zwischen 2 % und 3 % stagnieren –, ist die Stimmung der Delegierten überraschend positiv, ja fast ausgelassen gewesen. Dies scheint vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen zu sein:

a) Kritische Lage durch Neumitgliederzuwachs verdeckt:
Die schlechte Gesamtsituation der Partei wird durch den Zustrom an Neumitgliedern in zweierlei Hinsicht kaschiert. Einerseits erweckt der Anstieg der Eintrittszahlen bei den etablierten Funktionären den Eindruck, dass ein Aufschwung bevorstehe, auch wenn sich dieser bisher nicht in den Umfragen widerspiegelt. Andererseits sind es gerade diese Neumitglieder, die in Zeiten der Wahlniederlagen beigetreten sind und daher die Zukunft der Partei optimistisch beurteilen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob tatsächlich Anhaltspunkte für eine gesellschaftliche Revitalisierung der Partei vorliegen. Die Abspaltung wie die Neueintritte sind ein Ausdruck für tiefer liegende Brüche im politischen System, die noch nicht abgeschlossen sind. Sie sind angetrieben von der Transformation in der Welt der Produktion, der gesellschaftlichen und sozialstaatlichen Regulation und den unzureichenden Antworten, die das traditionelle Spektrum einschließlich der Linken bisher darauf gibt. Auch die internationale Lage muss auf Basis der erneuerten Kritik der politischen Ökonomie neu bewertet werden. Eine klare Wertorientierung auf Nächstenliebe und Solidarität unterm Motto „Eine Linke die hilft, die kämpft und die organisiert“ kann alltagstauglich werden in einer fundierten Auseinandersetzung mit den relevanten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Diese Diskussion blieb jedoch auf dem Parteitag aus. Allein auf Hoffnung zu setzen, wird die prekäre Lage jedenfalls nicht verbessern.

b) Erleichterung über Wagenknecht-Abgang als trügerisches Moment
Die Erleichterung über den Austritt der Anhänger Sahra Wagenknechts hält an und verdeckt offenbar den Blick auf die fortschreitende Bedeutungslosigkeit der Partei und verhindert vorläufig die Verständigung über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Daher brechen in der Partei Diskussionen über konkurrierende Werte kurz nach dem Parteitag wieder auf. Die Freude darüber, sich endlich ohne Bauchschmerzen mit den Positionen der Partei identifizieren zu können, scheint die Sorge um deren gesellschaftliche Relevanz zu verdrängen. Falls zutreffend, wäre das eine äußerst bedenkliche Entwicklung: Die Partei diente keinem realen gesellschaftlichen Bedarf mehr, sondern würde zum Selbstzweck verkommen und in einer Tendenz zum Sektierertum enden.

2. Die Generaldebatte und der Leitantrag spiegeln, die strukturellen Schwächen der Partei wieder

Die Generaldebatte sowie die Beschlussfassung zum Leitantrag erwiesen sich zwar als inhaltlich wenig ergiebig, gewährten jedoch tiefe Einblicke in den Zustand der Partei. Besonders auffällig war das Fehlen jeglicher Kritik am scheidenden Parteivorstand und dessen politischer Linie – und das trotz verheerender Wahlergebnisse und der bislang erfolgreichen Abspaltung einer ganzen Parteiströmung. Strategierelevante Beiträge und Versuche inhaltlicher Neuausrichtung suchte man in der Generaldebatte zum Großteil vergebens; auch Selbstkritik und Selbstreflexion unter den alten und neuen Vorständen wie auch unter den Delegierten selbst blieben weitgehend aus. Stattdessen dominierten Beiträge, die sich auf Haltungsfragen, moralische Selbstvergewisserung und die rituelle Wiederholung des Parteiprogramms beschränkten.

Offenbar geht die Mehrheit der Delegierten davon aus, dass der scheidende Parteivorstand keine Verantwortung für die desolate Lage der Partei trage und dass der bisherige Kurs der Partei richtig sei. Vielmehr ist es dem scheidenden Parteivorstand gelungen, die Schuld nahezu vollständig auf das Lager von Sahra Wagenknecht abzuwälzen. Diese Schuldzuweisung trug zwar wesentlich zur Harmonie des Parteitages bei, verhinderte jedoch eine notwendige, schonungslose Analyse eigener Fehler, die für eine inhaltlich-strategische Neuausrichtung unabdingbar wäre. Es besteht daher die begründete Befürchtung, dass die Partei die Linie des scheidenden Vorstands im Wesentlichen beibehalten und lediglich versucht wird, durch höhere Mitgliedermobilisierung in Form verstärkten Haustürwahlkampfs sowie punktueller Schwerpunktsetzungen eine Modifikation zu erreichen. Wir halten dies für bedenklich und unzureichend.

3. Der Parteivorstand ist pluraler, aber inhaltlich ähnlich schwach aufgestellt wie der letzte Parteivorstand

Mit Jan van Aken und Ines Schwerdtner hat die Partei zwei weitgehend unbekannte Persönlichkeiten an ihrer Spitze, die mit einem deutlichen Vertrauensvorschuss starten. Ob es ihnen jedoch gelingt, die verschiedenen Machtzentren der Partei – darunter das Karl-Liebknecht-Haus, die Bundestagsgruppe, die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die unterschiedlichen Landesverbände – zu vereinen und ein handlungsfähiges Zentrum zu schaffen, bleibt abzuwarten. Der Verlust der Regierungsbeteiligung in Ostdeutschland und des Fraktionsstatus im Bundestag könnte die Macht des Parteivorstands jedenfalls stärken und mehr Handlungsspielräume und Durchsetzungsmacht ermöglichen.

Der neue Vorstand mag pluraler aufgestellt sein – so ist etwa die AKL NRW mit gleich zwei Personen vertreten –, doch inhaltlich hat er keine erkennbare Stärkung erfahren. Es verwundert daher nicht, dass weder die Vorsitzenden noch andere Parteivertreter das SPD-Wahlkampf-Strategiepapier zur Sprache brachten und die Auswirkungen auf die eigene Positionierung im Wahlkampf diskutierten. Die Vorstellungsreden und insbesondere die Fragerunden verkommen so immer mehr zur inhaltslosen Selbstinszenierung oder zur ermüdenden Rezitationen des Parteiprogramms. Strategische Orientierung und die Besetzung wichtiger Kompetenzfelder, die heutige politische Problemfelder adressieren spielten bei der Personalauswahl im Parteivorstand keine große Rolle. In diesem Kontext ist es besonders bedauerlich, dass unsere Kandidatin Dana Morisse in Abwesenheit nicht gewählt wurde. Ihr Fehlen ist eine verpasste Chance für den Aufbau der im Parteivorstand dringend benötigten Wirtschaftskompetenz.

4. Die Nahost-Debatte hat die Qualität der Vorsitzenden angedeutet

Der Parteitag hat einen Beschluss zur Debatte um Nahost und Antisemitismus gefasst, der von einer Mehrheit der Delegierten als ausgewogen genug bewertet wurde, um ihm zuzustimmen. Wenngleich die Qualität des Beschlusses in der Partei gewiss kontrovers bewertet werden kann, ist festzuhalten, dass es Jan van Aken wenigstens gelungen ist, mit außenpolitischer Erfahrung dazu beizutragen, dass trotz der Verschiedenheit an Positionen in der Partei zu Nahost und zum Thema Antisemitismus der Parteitag nicht in Chaos geendet ist.

Dennoch wird die Diskussion über die außenpolitische Ausrichtung der Linken, über die dahinterstehenden weltanschaulichen Grundlagen und darüber, welche Positionen im Ganzen ausgewogen sind, damit nicht abgeschlossen sein. Denn die aktuellen Unruhen im Landesverband Berlin zeigen, dass die Partei zu besagtem Themenkomplex noch weitere theoretische und praktische Anstrengungen zu unternehmen hat. Ein solches Vorhaben setzt solidarische Formen der innerparteilichen Diskurse und Auseinandersetzungen sowie die Bereitschaft der Mitglieder voraus, weltanschauliche Grundlagen eigener linker Positionen selbstkritisch auf den Prüfstand zu stellen. Die Vorsitzenden, die auf dem Parteitag gezeigt haben, dass sie in der Lage sind, hitzige Debatten zu kanalisieren, stehen vor der Herausforderung, die Diskurse und Arbeiten zu benanntem Themenkomplex in einem zivilisierten Rahmen stattfinden zu lassen. Wir brauchen für den erforderlichen inhaltlichen Neustart unserer Partei die Beteiligung vieler kompetenter Mitglieder und appellieren daran, in der Partei zu bleiben und nicht durch Austritte die Qualität des Neustarts zu gefährden.

5. Die Vielstimmigkeit der Partei wird fortbestehen

Trotz der Ankündigung des neuen Vorsitzenden, der sich nicht nur als „Friedenstaube im Kapuzenpulli“ sieht, sondern auch als „einer, der sagt: Jetzt ist Schluss mit Zoff!“, bleibt die innerparteiliche Vielstimmigkeit ein Problem. Die Zielsetzung von Jan van Aken wurde direkt durch Gregor Gysis Ankündigung, gegebenenfalls einen Parallelwahlkampf mit den „Silberlocken“ – also Gysi, Bartsch und Ramelow – zu führen, infrage gestellt. Gysi und seine Mitstreiter verfügen über genug Prominenz, um „in jedes Mikrofon zu beißen, das ihnen hingehalten wird“. Damit bleibt eines der Problemfelder der innerparteilichen Willensbildung bestehen. Es wird zur Aufgabe des neuen Vorstands, den Positionen dieses Triumvirats Gehör zu verschaffen, aber zugleich darauf zu achten, dass dies im Rahmen der innerparteilichen Strukturen und Mechanismen geschieht. Die Linke muss bei aller notwendigen und wünschenswerten inneren Pluralität und bei aller Angewiesenheit auf bekannte und vertrauenswürdige Gesichter vor allem als kollektive, kohärente, überzeugungsfähige soziale und sozialistische Kraft erkennbar werden und bleiben.

6. Die deutliche Ablehnung des Bedingungslosen Grundeinkommens ist ein Überraschungserfolg mit Signalwirkung

Die Zurückweisung des Bedingungslosen Grundeinkommens auf dem Parteitag war ein unerwarteter Erfolg und zeigt, dass unsere Strömung in entscheidenden Richtungsfragen Einfluss nehmen kann. Nachdem die Nahost-Debatte mit einem Kompromiss beigelegt wurde, war die Frage nach dem Bedingungslosen Grundeinkommen der letzte strittige Punkt auf der Tagesordnung. Ein starkes Bündnis aus der SL NRW, Teilen der Bewegungslinken und Mitgliedern aus der BAG „Betrieb & Gewerkschaft“ konnte erfolgreich verhindern, dass das Bedingungslose Grundeinkommen ins Parteiprogramm aufgenommen wird. Dieser Erfolg war angesichts der Ergebnisse des Mitgliederentscheids keineswegs selbstverständlich, sondern das Resultat intensiver Überzeugungs- und Mobilisierungsarbeit unserer Strömung im Vorfeld des Parteitages.

Ohne unseren Antrag gegen das BGE, die engagierten Redebeiträge unserer Mitglieder und die eindrucksvolle Videokampagne der Jungen Linken Bielefeld wäre dieser Erfolg vermutlich nicht möglich gewesen. Positiv hervorgetan hat sich in dieser Frage auch Ines Schwerdtner, die in der Antragsdebatte eine klare Haltung gegen das Bedingungslose Grundeinkommen zeigte. Ihre Bereitschaft in, kontroversen Fragen offen Position zu beziehen, sich als Parteivorsitzende einzubringen und zugleich den unterlegenen BGE-Befürwortern die Hand zu reichen, war ein schwieriger Drahtseilakt, der ihr aber eindrucksvoll gelungen ist.

Am Ende wurde die Partei mit dem Status quo vor dem Mitgliederentscheid belohnt und einer klaren Ablehnung des BGE durch den Parteitag. Für unsere Strömung bedeutet dieser Erfolg einen wichtigen Etappensieg auf dem Weg zur Erneuerung – sowohl unserer Bewegung als auch der gesamten Partei.